Fischschwärme funktionieren ähnlich wie das Gehirn
Wie es biologischen Systemen wie dem Gehirn oder Tierschwärmen gelingt, die Vielzahl an Einzelinformationen aus verschiedenen Quellen optimal zusammenzuführen, ist wenig bekannt.
Es gibt die Hypothese, dass das größte Leistungspotenzial des Gehirns an der Grenze zwischen Ordnung und Chaos liegt, im Zustand der sogenannten Kritikalität.
Forschende des Exzellenzclusters „Science of Intelligence" der Humboldt-Universität zu Berlin (HU), der Technischen Universität Berlin (TU) und des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) konnten diese Hypothese nun an einem riesigen Fischschwarm nachweisen. Die Studie wurde in Nature Physics veröffentlicht.
„Es geht bei Schwarmverhalten ja darum, dass sich Informationen lawinenartig ausbreiten. In diesem Zustand reagieren die Individuen maximal schnell auf externe Reize mit einer maximal effektiven Informationsweitergabe.
Wir konnten an großen Fischschwärmen zeigen, dass die Gesetzmäßigkeit der Kritikalität, die man schon für neuronale Netzwerke nachweisen konnte, diesen Zustand beschreibt“, erläutert Studienleiter Pawel Romanczuk, Professor am Institut für Biologie der HU und Forscher im Exzellenzcluster.
Kritikalität: An der Schwelle von Ordnung zum Chaos arbeitet das Gehirn am effektivsten:
Die Informationsverarbeitung im Gehirn basiert auf einem Netzwerk von rund 86 Milliarden Neuronen.
Sie leiten Informationen in Form von Spannungsimpulsen weiter. Nach einer These der Neurobiologie, der so genannten „Kritikalität des Gehirns“ (the critical brain hypothesis) ist unser Gehirn deshalb so effizient in der Informationsverarbeitung, weil es sich permanent an einem kritischen Punkt zwischen zwei dynamischen Zuständen befindet, nämlich Ordnung und Chaos – wobei Ordnung bedeutet, dass die Neuronen hochsynchron aktiv sind, wie in einem neuronaler Gleitschritt, und Chaos bedeutet, dass die Zellen unabhängig voneinander Impulse aussenden.
Im Zwischenzustand, der Kritikalität, ist das Gehirn maximal erregbar und schon kleine Reize bringen plötzlich eine Vielzahl von Neuronen zum Feuern, Informationen breiten sich lawinenartig aus und können besonders leicht übertragen werden, auch in weit voneinander entfernte Hirnareale.
La-Ola-Welle für die höchstmögliche Alarmbereitschaft:
Schwefelmollys sind Fische die in Schwefelquellen in Mexiko leben. Sie schwimmen zu Hunderttausenden im Schwarm und zeigen dabei ein typisches und ungewöhnliches Verhalten: Sie tauchen in Wellen auf und ab – aus der Vogelperspektive wirkt es wie eine riesige La-Ola-Welle, die sich mannigfaltig wiederholt.
Wie das Forschungsteam bereits in einer früheren Studie gezeigt hat, nutzen die kleinen Fische das Wellenverhalten zunächst, um angreifende Vögel erfolgreich zu verwirren. Dieses Verhalten könnte aber auch eine andere Funktion haben: Es könnte den Schwarm in einen Zustand optimaler Alarmbereitschaft versetzen – in einer Weise, die dem oben beschriebenen Zustand der Kritikalität des Gehirns sehr ähnlich ist.
Diese Wachsamkeit ist notwendig, weil die Tiere einem hohen Fraßdruck durch Vögel ausgesetzt sind – wer also nicht wachsam genug ist, wird gefressen.
Die Fische machen nämlich auch eine Wellenbewegung, wenn gar keine Vögel angreifen. „Wir wollten also herausfinden, ob diese Wellenbewegung eine Analogie zur Informationsverarbeitung des Gehirns sein könnte: wenige Oberflächenwellen, wenn keine Vögel angreifen; stärkere und mehr Wellen, wenn Vögel angreifen.
Damit würde sich auch der Schwarm bei der kollektiven Tauchbewegung im Stadium der Kritikalität bewegen – mit der höchstmöglichen Alarmbereitschaft“, erläutert Erstautor Luis Gómez-Nava, Forscher im Exzellenzcluster.
Die Forschenden kombinierten empirische Daten aus Verhaltensstudien im Feld mit mathematischen Modellen und konnten so zeigen, dass die räumlich-zeitliche kollektive Dynamik großer Schwärme von Schwefelmollys tatsächlich einem erregbaren System im Stadium der Kritikalität entspricht – ähnlich eines Gehirns.
Maximale Unterscheidungsfähigkeit von Umweltreizen und hohe Reichweite:
Das Verhalten an einem kritischen Punkt ermöglicht es den Schwefelmollyschwärmen, ständig auf Störungen in der Umwelt zu achten und Informationen über die Intensität des Hinweises auch über weite Strecken weiterzugeben.
Dies konnte in Zusammenarbeit mit weiteren Mitgliedern des Exzellenzclusters aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz, Robert Lange und Professor Henning Sprekeler, gezeigt werden.
Sie nutzten modernste Algorithmen des maschinellen Lernens, um die Reaktion des Schwarms auf unterschiedliche Intensitäten von Störungen in der Umgebung zu testen, und kamen zu dem Schluss, dass der Schwarm tatsächlich in der Lage ist, die Informationen über äußere Reize – wie angreifende Vögel – effizient für sich zu nutzen.
„Im Falle der Schwefelmollys korreliert die Intensität der Hinweise mit der Gefahr, da jagende Vögel oft mit dem Körper ins Wasser eindringen, was zu hochintensiven visuellen, akustischen und hydrodynamischen Hinweisen führt, während Vögel im Überflug nur einige visuelle Hinweise geben. Daher ist die Information über die Intensität des Hinweises für Fische sehr wichtig, um angemessene Reaktionen zu koordinieren, zu denen auch wiederholtes Tauchen über mehrere Minuten gehört. Darüber hinaus können diese Informationen über weite Entfernungen übermittelt werden, sodass die Fische Vorsorgemaßnahmen ergreifen können, auch wenn sie sich nicht im direkten Gefahrenbereich befinden“, sagt Koautor David Bierbach.
Der Forscher im Exzellencluster hat bereits viele Verhaltensstudien mit Schwefelmollys durchgeführt.
Unterschiede Schwarm und Gehirn: Individuelles Verhalten der Tiere:
Natürlich gibt es auch wichtige Unterschiede zwischen dem Fischschwarm und neuronalen Systemen. In neuronalen Systemen ändert sich die Struktur des Interaktionsnetzwerks zwischen den einzelnen Elementen auf einer viel langsameren Zeitskala als das dynamische Verhalten im Fischschwarm.
„Die dynamische Gruppenstruktur und individuelle Verhaltensparameter wie die individuelle Geschwindigkeit oder die Aufmerksamkeit gegenüber Artgenossen haben starke Auswirkungen auf das kollektive Verhalten, was zu alternativen Mechanismen der Selbstorganisation in Richtung Kritikalität durch Modulation des individuellen Verhaltens führen kann.
Es gibt hier noch viele offene Fragen an denen wir weiterforschen“, sagt Jens Krause, Professor an der HU und im Exzellenzcluster sowie Leiter einer Forschungsabteilung am IGB.
Die Ähnlichkeit zwischen dem Tauchverhalten von Fischen als „kollektivem Verstand“ und der neuronalen Aktivität im Gehirn hilft, kollektive Systeme in der Natur besser zu verstehen.
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