BFH: Raffinierter Sensor in der Milchkuh für ein tierisch heikles Problem

(19.03.2011) Die Blinddarmdilatation/-dislokation ist eine wichtige Krankheit der Milchkühe, welche seit Jahren an der Wiederkäuerklinik der Universität Bern erforscht wird. An der Berner Fachhochschule in Biel realisierte Entwicklungsingenieur Markus Lempen unter Leitung von Professor Dr. Volker M. Koch ein neues Messsystem.



Markus Lempen, wissenschaftlicher Mitarbeiter von Professor Volker Koch an der BFH Biel, erklärt einer Studentin die Funktionsweise der Kapsel mit integriertem Temperatursensor
Die Kooperation der Universität Bern mit der Berner Fachhochschule führte zu einer Kapsel mit eingebautem Thermometer und Timer, welche die Transitzeit im Darm der Tiere misst und die Daten auf einen PC zur Auswertung transferiert.


Rund 690 Millionen Tonnen Milch werden jährlich produziert, wovon etwas über 80% Kuhmilch. Europa steuert etwa 36% der Weltproduktion bei. Die vierbeinigen Lieferanten verfügen – wie alle Wiederkäuer - über gänzlich andere Verdauungsorgane als wir Menschen, vertilgen selbst Futtermittel wie Heu oder Gras und setzen diese via ihre vier Mägen in Milch um.

Ein ausgetüfteltes Verdauungssystem

Diese strukturierten Rohfasern hat die Kuh nötig, damit ihre Kautätigkeit und die Bildung von Speichel angeregt werden. Hat sich die Kuh die Mahlzeit einverleibt, legt sie sich erst mal hin und wiederkäut. Während ihre Mahlzähne das Futter verkleinern, sorgt die körpereigene Speichelproduktion von täglich bis zu 200 Litern dafür, dass der pH-Wert im Pansen – dem ersten der vier Mägen - auf neutrale rund 6,5 erhalten bleibt.

Der Speichel neutralisiert die im Pansen durch die mikrobielle Zersetzung des Futters gebildeten Säuren und verhindert damit, dass dieser ‚übersäuert‘. Um eine hohe Milchleistung zu erbringen, genügt Raufutter wie Heu oder Gras aber natürlich nicht.

Die Wiederkäuer brauchen auch energie- und eiweissreiches Kraftfutter, in Form von Getreidemehl, Maissilage oder Futterrüben. Mit dieser - parallel zu den immer höheren erzielten Leistungen - intensivierten Fütterung haben bei Milchkühen in den letzten Jahrzehnten „Produktionskrankheiten“ wie die Labmagenverlagerung und die Blinddarmdilatation/-dislokation (BDD) an Bedeutung stark zugenommen.



Die Wiederkäuerklinik der Vetsuisse-Fakultät Bern betreut vierbeinige Patienten und forscht unter anderem auf den Gebieten Darmmotorik, Bestandesmedizin, Neuweltkameliden sowie Kälbergesundheit
Bei der BDD zeigen die betroffenen Tiere wenig Appetit, die Milchproduktion geht zurück, und die Kühe verspüren angesichts der Dilatation des Darmes durch Gas und den angestauten Inhalt Schmerzen in der Bauchregion. Je nach Schweregrad der Erkrankung lässt sich das Übel mit Medikamenten beheben oder aber ein chirurgischer Eingriff drängt sich auf.


„Zwar untersuchten schon internationale Forschergruppen das Phänomen, fanden aber bis heute keinen einzelnen klaren Auslöser“, kommentiert Mireille Meylan, international renommierte Fachfrau auf diesem Gebiet. „Die Vermutung liegt aber nah, der Grund von BDD sei nicht im Blinddarm selbst, sondern in einem weiter gelegenen Teil des Dickdarms, der Kolonscheibe zu suchen.“

Medizin sucht Mikrotechnik

Die Professorin für Veterinärmedizin ist stellvertretende Leiterin der Wiederkäuerklinik der Vetsuisse-Fakultät in Bern und spezialisiert auf Magen-Darm-Erkrankungen beim Rind, welche durch eine Funktionsstörung der Motorik entstehen. Um dem Geheimnis des BDD auf den Grund zu gehen, hatte sie den Geistesblitz, die Transitzeit des Darminhaltes zwischen verschiedenen Darmabschnitten und Enddarm der Kühe nach einer BDD zu messen.

Damit sollte feststellbar sein, ob sich Kühe nach BDD von gesunden Kontrollkühen unterscheiden und ob es Abweichungen gibt zwischen Kühen, welche sich normal erholen, und solchen, bei denen sich die Erholung verzögert oder wo ein Rückfall eintritt. Mit einer solchen Messung im Tierkörper wäre es möglich, die Transitzeit verschiedener Darmabschnitte bis zum Enddarm zu vergleichen und so die Stelle im Darm zu lokalisieren, wo die zur BDD führende Störung entsteht.



Veterinärmediziner David Devaud kann mit einer eigens entwickelten Software jederzeit die genaue Temperatur der fünf nach dem Implantationsort identifizierbaren Kapseln im Innern des Tierkörpers ermitteln
Die Wissenschaftlerin wandte sich an die Berner Fachhochschule in Biel, wo Professor Dr. Volker M. Koch, Dozent für Medizintechnik, sie mit seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Markus Lempen in Kontakt brachte.


Diesem war sofort klar, dass er hier ein heisses Eisen anpackte, doch gerade dies motivierte ihn. Er begann zu recherchieren und arbeitete sich in Gesprächen vor Ort mit Frau Meylan und ihrem Mitarbeiter, dem Tierarzt David Devaux in das Thema ein. Zwar gibt es für die Humanmedizin auf dem Markt die SmartPill, eine Kapsel mit Sensoren, welche den pH-Wert, den Druck im Darm und die Temperatur misst.

Sie wurde für die Diagnose an Patienten mit Verdacht auf Gastroparese – eine Magenlähmung - entwickelt. Obwohl sich das Messgerät auch in der Kleintiermedizin anwenden lässt, ist es für Nutztiere einerseits zu teuer und anderseits angesichts der Grösse der Tiere nicht anwendbar. Markus Lempen schwebte vielmehr ein miniaturisiertes, Batterie betriebenes Mikrosystem vor.

Dieses musste, um den Tierkörper unbehelligt zu durchwandern, von einer biokompatiblen Kapsel umhüllt, wieder verwendbar und sterilisierbar sein, ohne Schaden zu erleiden. Zum Austausch der Batterien sollte sich die Kapsel durch einen Schraubverschluss verschliessen lassen, dabei jederzeit absolute Dichtheit gewährleisten.

Pfiffige Elektronik aus kleinstem Platz

Das inzwischen entstandene System steckt in einer Kapsel aus Polyoxometalat (POM) von 8 x 25 mm, also nicht grösser als das korkfarbene Mundstück einer Filterzigarette. Darin ist ein 3 x 3 mm Transmitter für eine Übertragung im 433 MHz ISM Band und einer Sendereichweite von 10 Meter untergebracht, sowie ein Temperatursensor von 1,6 x 1,6 mm. Den Energiebedarf decken zwei 1,55 V Silberoxid-Zellen.



Die rote, nur 22 x 8,6 mm messende Kapsel kann Daten über 15 Tage erfassen und in einer Reichweite von 10 Metern weitersenden. Im Hintergrund der Temperatursensor und RF-Transmitter
In der Praxis implantieren die Tierärzte der Kuh fünf Kapseln in verschiedenen Lokalisationen des Darmes. Die darin enthaltenen Transmitter sind aktiv und senden ihre Kennung an den Empfänger, die Temperaturmessung erfolgt in regelmässigen Zeitabständen. Die Messdaten gelangen über eine USB-Verbindung an einen PC.


Die Transitzeit wird anhand der Temperaturprofile der einzelnen Kapseln durch eine spezielle Kontrollsoftware berechnet, die Daten aufgezeichnet und grafisch präsentiert. Dank der Software kann der Operateur jeder Kapsel den entsprechenden Implantationsort zuweisen. Die Komponenten in der Kapsel werden von Knopfzellen mit Strom gespiesen. Die Stromversorgung des Empfängers erfolgt über die USB-Verbindung zum PC. Der Temperatursensor ist via eine 12C Schnittstelle mit dem Mikrokontroller verbunden. Der RF-Transmitter wird als separates Modul vom Mikrokontroller angesteuert.

Hightech ja, aber kostengünstig

„Damit erzielen wir ein effizientes System, dessen Materialkosten unter 15 Schweizer Franken zu stehen kommen“, bilanziert Markus Lempen. „Die Kapsel ist völlig tierverträglich, da biokompatibel, lässt sich sterilisieren und wieder verwenden.“ Damit sich die Kapsel nach Auswurf nicht unauffindbar im Einstreumaterial des Kuhstalls verkriecht, integrierte der Bieler Forscher ein ‚Alarm-Lämpchen‘ neben dem an der Stallwand angebrachten Empfänger, welches grün blinkt, sobald eine Kapsel den Tierkörper verlässt.



Die Chirurgie (im Bild eine Nabeloperation) gehört neben Innerer Medizin, Bestandesmedizin und Gynäkologie zu den an der Wiederkäuerklinik der Vetsuisse-Fakultät Bern vertretenen Fachgebieten, welche von Experten mit europäischem
Inzwischen hat das System seine Funktionstüchtigkeit bewiesen, arbeitete zuverlässig in verschiedenen Operationen von Milchkühen an der Berner Wiederkäuerklinik. Doch Markus Lempen heckt schon neue Ideen aus: „Sinnvoll wäre es nun, einen automatischen E-Mail-Versand der Daten zu integrieren. Zudem möchte ich eine Messplattform realisieren für weitere Sensoren, beispielsweise zur zusätzlichen Messung des pH-Wertes und des Drucks.“ Natürlich muss das System so raffiniert konzipiert sein, dass es trotz ‚Hightech‘ kostengünstig herzustellen und einzusetzen ist.


Vom Resultat, aber auch von der Projektarbeit begeistert zeigt sich Mireille Meylan: „Markus Lempen hat die Aufgabe sofort erfasst, sich mit grossem Engagement das ganze Projekt über eingesetzt und auf alle auftauchenden Probleme stets Lösungen gesucht und gefunden.“ Der BFH-Sensor bietet der Forscherin die Möglichkeit, das Problem auf einem neuen Weg mit fundierten Daten anzupacken – die Milchbauern und die leidenden Tiere werden es ihr zu danken wissen.

Elsbeth Heinzelmann
Journalistin Technik und Wissenschaft



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