Rekonstruktion der Geschichte des Fisch-Erbguts

(05.09.2014) Eine Studie im Magazin «Nature» zeigt, wie ein über längere Zeit entstandenes Reservoir unterschiedlichster Mutationen schliesslich die schnelle ökologische Anpassung und Artbildung afrikanischer Buntbarsche ermöglicht hat.

Für die Studie haben 27 Forschungsinstitutionen weltweit zusammengespannt und die Geschichte des Erbgutes von fünf Buntbarsch-Arten aus fünf verschiedenen, unterschiedlich «artbildungsfreudigen» Evolutionslinien rekonstruiert.

Universität Bern «Afrikanische Buntbarsche sind einmalig unter Wirbeltieren in ihrem Reichtum von Arten mit Anpassungen an die verschiedensten ökologischen Nischen», sagt Ole Seehausen vom Wasserforschungsinstitut Eawag und der Universität Bern, der das interdisziplinäre Projekt zusammen mit Kerstin Lindblad-Toh und Federica Di Palma vom amerikanischen Broad Institute geleitet hat.

Um zu erforschen, was diese Vielfalt an Form und Funktion zu ermöglicht hat, lag die Frage nahe, wie das Buntbarsch-Genom beschaffen ist.

Modell für Evolution der Wirbeltiere

«Wir zeigen, wie die Natur mit einem ganzen Spektrum unterschiedlicher Methoden die Voraussetzungen schafft, dass sich Organismen an unterschiedliche Umgebungen anpassen können», sagt Kerstin Lindblad-Toh.

Dieselben Mechanismen, so vermutet sie, seien auch in der Evolution von Menschen und Wirbeltieren am Werk. Mit der Konzentration auf die bemerkenswert artenreichen Buntbarsche, konnten die beteiligten Wissenschaftler diese Prozesse zum ersten Mal umfassend untersuchen.

Der späte Nutzen der Zufälle

In den afrikanischen Seen sind über 1'500 Buntbarsch-Arten in nur wenigen Millionen Jahren entstanden – die 500 Arten des Viktoriasees hatten dafür sogar nur 15'000 Jahre Zeit. «Das ist die schnellste Artbildung, die bisher bei Wirbeltieren gefunden wurde», sagt Evolutionsbiologin Catherine Wagner von der Eawag und der Universität Bern, die wesentlich an den Genomanalysen beteiligt war.

Ähnlich schnell entwickelten sich zum Beispiel die verschiedenen Felchenarten in den nacheiszeitlichen Alpenrandseen. Die Anzahl neu entstandener Arten ist in diesem Fall allerdings wesentlich kleiner.

Doch welche genetischen Voraussetzungen ermöglichten diese schnelle Artbildung auf engem Raum, sogenannte «Radiationen»? Laut dem Fisch- und Evolutionsbiologen Ole Seehausen haben die Vorfahren der grossen Radiationen in einer Phase ohne grossen Selektionsdruck verschiedenste Typen zufälliger genomischer Variation angehäuft.

«Damals war diese Variation wohl ziemlich nutzlos; aber sie wurde unglaublich nützlich, als die Fische die ostafrikanischen Seen besiedelten. Dort gaben ihnen vielfältige ökologische Nischen plötzlich Gelegenheit für unterschiedliche Anpassungen», sagt Seehausen.

Das Resultat vieler Veränderungen

Nicht eine einzelne, grosse Veränderung im Genom hat offenbar den Fischen ihre erstaunliche Anpassungsfähigkeit und schnelle Artbildung ermöglicht, sondern eine Menge ganz unterschiedlicher molekularer Mechanismen. Im Unterschied zu artenarmen Fischfamilien, die sich über Jahrmillionen nur in wenige Arten aufgespalten haben, fanden die Biologen in der Erbinformation der Pundamilia nyererei des Viktoriasees und der anderen artbildungsfreudigen Buntbarschlinien gehäuft Veränderungen, die auf drei unterschiedliche Mechanismen zurückgehen: die Variationen einzelner Basenpaare in Genen, die Duplikation von Genen, sowie Transpositionen – DNA-Abschnitte, die ihre Position im Genom verändern können und damit die Art und Weise, wie Erbinformationen gelesen werden.

Alle Veränderungen können an den verschiedensten Orten im Genom auftreten. Doch nicht nur die Bereiche der DNA, die Erbinformationen kodieren, können variieren, sondern auch die Abschnitte, die regulieren, wie diese Informationen gelesen und in Körperformen und –funktionen umgesetzt werden.

Dasselbe gilt für MikroRNA, kleine Moleküle, die mitverantwortlich dafür sind, dass die Erbinformationen während der embryonalen Entwicklung in der richtigen Reihenfolge umgesetzt werden.

Neue Werkzeuge für die Grundlagenforschung

Für den Vergleich der fünf Buntbarscharten wurden das gesamte Erbgut (DNA), sowie die RNA aus zehn verschiedenen Geweben analysiert. «Noch vor fünf Jahren waren mit den kleinen DNA-Stücken, die wir mit den damaligen Methoden untersuchen konnten, kaum Aussagen über die genetischen Unterschiede nahe verwandter Arten möglich», sagt Catherine Wagner.

Mit den neuen Werkzeugen kann die Biologie heute weit in die Zeit zurückblicken und die genetische Grundlage der Artenvielfalt besser verstehen – und zwar bei allen Vertebraten. Di Palma weist daher auf das Potential der vielen Mutanten artenreicher Radiationen für die medizinische Grundlagenforschung hin.

Jede Artbildung ist einmalig

Die Studie belegt die Bedeutung des Biodiversitäts-Schutzes. Denn durch das Zusammenspiel einer Vielzahl genetischer Prozesse zu unterschiedlichen Zeiten entsteht in jedem Fall ein Genom mit seiner eigenen Geschichte und einer einzigartigen Architektur. «Geht eine Art verloren, ist der Verlust endgültig», sagt Seehausen.

Zugleich geht für alle Nachbar-Arten ein Teil ihrer Umwelt verloren – und für alle verwandten Nachbararten ein Reservoir an Erbgut- und Regulierungsvarianten, auf das sie bei Bedarf durch Hybridisierung zurückgreifen können.

Wie weit aus den neuen Resultaten Schlüsse gezogen werden können für das Werden und Vergehen der Biodiversität in der Schweiz, prüfen Eawag und Universität Bern derzeit unter anderem mit der Untersuchung von Felchen- und Saiblings-Radiationen in den Alpenrandseen.




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