Wie weit hat der Mensch das Recht, das Tier für sich zu nutzen?

(22.08.2011) Festansprache von Bundesrat Johann N. Schneider-Ammann zu 150 Jahre Tierschutz

Bundesrat Johann N. Schneider-Ammann Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Gäste,

Um es gleich vorwegzunehmen: Ich bin ein Tierliebhaber. Nicht nur meine Hunde liegen mir am Herzen. Seit vielen Jahren setze ich mich für das Wohl der Tiere ein. Präsent ist mir immer noch die Diskussion zu Beginn der Neunzigerjahre, als wir im Parlament diskutierten, ob Tiere eine Sache sind oder nicht. Schon damals habe ich mich für die Tiere engagiert.

Es freut mich, dass bereits in meiner kurzen Amtszeit als oberster Chef des Bundesamtes für Veterinärwesen die Bedingungen für die Tiertransporte durch die Schweiz verschärft werden konnten.

Wie Sie wissen, muss ich im Zusammenhang mit der Reorganisation der Departemente das Bundesamt für Veterinärwesen auf Anfang 2013 ans EDI abtreten. Das tut mir natürlich weh. Denn: Obwohl ich meine Ausbildung zum Tierarzt abgebrochen habe, habe ich mit meiner heutigen Position sozusagen eine zweite Chance erhalten, mich für das Wohl der Tiere einzusetzen...

Meine lieben Gäste, nicht nur ich bin ein Tierfreund, sondern die Schweiz ist ein Land von Tierhaltern und Tierfreunden. Die Zahlen der in der Schweiz gehaltenen Tiere sind eindrücklich.

Eine kleine Auswahl: Wir zählen 9 Millionen Hühner, 3 ½ Millionen Rinder, Schweine, Schafe und Ziegen und 1,3 Millionen Katzen. Und damit sind nur gerade die häufigsten Tierarten aufgezählt. Hinzu kommen Frettchen, Aras, Leguane, Vogelspinnen, Strausse, Kaninchen - und Zirkustiere. Diese Heim- und Nutztiere sind in unserer Obhut, wir sind für sie verantwortlich.

Den Menschen in der Schweiz sind ethische Aspekte generell und der Tierschutz im Speziellen wichtig. Die Sorge um das Tierwohl ist gross in unserer Gesellschaft. Es gibt zahlreiche Umfragen, die das belegen.

So halten 90 Prozent der Schweizer und Schweizerinnen den Tierschutz für wichtig - bei Nutztieren genauso wie bei Heimtieren. Nur 12 Prozent achten beim Kauf von Fleisch nie auf den Tierschutz.

Dieselben Studien zeigen aber auch, dass das Wissen um die Bedürfnisse der Tiere eher bescheiden ist. Erste Bemühungen für ein Tierschutzgesetz auf Bundesebene gab es Anfang der Sechzigerjahre. Zehn Jahre später war die Zeit reif: Zuerst wurde der Verfassungsartikel angenommen und 1981 trat das eidgenössische Tierschutzgesetz in Kraft.

Das Tierschutzgesetz von 2005 und die entsprechende Verordnung 2008 übernahmen Bewährtes. Sie setzten aber auch neue Akzente.

Die revidierte Gesetzgebung appelliert explizit an die Eigenverantwortung jedes einzelnen Bürgers, jeder einzelnen Bürgerin. Sie tut dies, indem sie Ausbildungen für Tierhaltende vorschreibt. Sie verpflichtet den Bund zudem zur transparenten Information. Die Bevölkerung soll über die richtige Haltung der Tiere informiert sein.

Je besser jemand über die artspezifischen und biologischen Bedürfnisse seines Tieres Bescheid weiss, desto besser wird er es halten. Information und Ausbildung stärken die Prävention. Wissen verhindert, dass Tieren unnötig Schmerz zugefügt wird oder dass sie leiden müssen.

Die Gesetzgebung will auch den Vollzug verbessern. Das stellt die Kantone vor zusätzliche, wichtige Aufgaben. Angesichts der knappen Ressourcen sind diese für die Kantone nicht leicht zu bewältigen. Griffige Vorschriften und regelmässige Kontrollen sind wichtige Instrumente für den Vollzug.

Die Erarbeitung der neuen Tierschutzgesetzgebung hat zahlreiche und zum Teil hitzige Diskussionen provoziert. Mehrheitsfähige Lösungen zu finden - sei es für grundsätzliche Fragen oder für Detailbestimmungen ̶ ist in diesem Spannungsfeld nicht immer einfach, aber zwingend notwendig. Letztlich geht es immer um die Frage: Wie weit hat der Mensch das Recht, das Tier für sich zu nutzen, und wie stark muss es vom Menschen geschützt werden?

Den Tieren muss ein Umfeld geboten werden, das ihren Bedürfnissen möglichst gerecht wird. Darin sind sich alle einig. In der heutigen Gesellschaft öffnet sich jedoch in den Erwartungen an den Tierschutz eine grosse Schere. Während die immer urbanere Gesellschaft idealisierte Vorstellungen von der Haltung eines Tieres hat, wird die Tierhaltung auf Seiten Landwirtschaft und Forschung stark von wirtschaftlichen Faktoren bestimmt.

In diesem Spannungsfeld müssen Lösungen gefunden werden, die für alle tragbar sind und eine breite Akzeptanz finden.

Die Nutztierhaltung ist ein wichtiger Produktionszweig der Schweizer Landwirtschaft. Sie ist einem grossen Druck ausgesetzt. Trotz dieses Druckes muss vermieden werden, dass das Tier nur noch als wirtschaftlicher Faktor angesehen wird.

Ein optimaler Schutz der Tiere mit rigorosen Tierschutzbestimmungen wird häufig als Widerspruch zur Wirtschaftlichkeit und Rentabilität wahrgenommen. Sie, meine Damen und Herren, wissen, dass Tierschutz die Wirtschaftlichkeit durchaus fördern kann. Andere aber wollen das nicht sehen.

Ein Beispiel, das zeigt, dass Wirtschaftlichkeit und Tierschutz sich nicht beissen, sind Rinder mit genügend Auslauf: Sie sind erwiesenermassen gesünder. Mit der Folge, dass die Tiere eine bessere Lebensqualität haben und die Bauern qualitativ besseres Fleisch verkaufen können.

Gerade mit der Qualitätsstrategie der Agrarpolitik 14-17 kommt dem hohen Niveau des Tierschutzes eine wichtige Rolle zu. Im Rahmen der Direktzahlungen werden Beiträge für besonders tierfreundliche Stallhaltung bezahlt. Ebenso für Tiere mit freiem Auslauf.

Eine tiergerechte Haltung unserer Nutztiere ist den Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten wichtig. Tierschutz ist damit ein wichtiges Verkaufsargument für Produkte, die in unserem Land hergestellt werden.

Lösungen müssen auch für die Forschung gefunden werden. Hier wird auf der einen Seite die Belastung des Tieres in die Waagschale gelegt. Auf der anderen Seite liegen die schutzwürdigen Interessen der Tiere. Es sind wichtige, zum Teil unangenehme Fragen, die sich uns hier stellen.

Weil Haustiere in unserer Gesellschaft einen immer höheren Stellenwert einnehmen, kommt der tiergerechten Haltung der Haustiere eine immer wichtigere Rolle zu. Hunde, Katzen oder andere Kleintiere dürfen weder vermenschlicht oder vernachlässigt werden. Für all diese Fragestellungen müssen und werden wir Antworten finden - im Austausch mit allen Interessierten und den direkt Beteiligten. Die Tierschützerinnen und Tierschützer spielen bei diesen Diskussionen eine wichtige Rolle.

Liebe Gäste, auf den heutigen Stand des Tierschutzes dürfen wir stolz sein. Im internationalen Vergleich stehen wir sehr gut da. Dies verdanken wir massgeblich dem Engagement des Verbandes Schweizer Tierschutz. Der Verband setzt sich seit der Gründung vor 150 Jahren für die Rechte der Tiere und ihren Schutz ein.

Die Aktivitäten basieren auf einem breiten Fachwissen und unermüdlichem Einsatz. Der Verein steckt die Ziele jeweils hoch, stellt Forderungen, informiert und lobbyiert. Er fordert die Politik und die Behörden immer wieder heraus. Es ist nicht zuletzt dieser fruchtbaren Auseinandersetzung zu verdanken, dass es den Nutz- und den Heimtieren in der Schweiz gut geht. Der Schweizer Tierschutz steht im internationalen Vergleich gut da. Das ist auch ein Qualitätsargument für unsere Produkte. Die engagierten Tierschützer und Tierschützerinnen verdienen unseren Respekt und unseren Dank. In diesem Sinne gratuliere ich dem Schweizer Tierschutz herzlich zum 150-Jahre-Jubiläum.

Nur weiter so!

Bern, 19.08.2011 - Bundesrat Johann N. Schneider-Ammann



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